Beitrag aus dem Magazin ARTPROFIL
Der Mensch ist in seiner Widersprüchlichkeit faszinierend - für Künstler als Objekt der Betrachtung geradezu prädestiniert. Unsere Gestik und Mimik entspricht ja häufig nicht unbedingt dem, was wir sagen - sie ist sogar oft dem entgegengesetzt - darum ist der „unverstellte Mensch“ ja auch so spannend, weil sich die scheinbar unendlichen Facetten menschlichen Ausdrucks nur um Nuancen voneinander unterscheiden können. Denn ein Dialog, der nonverbal geführt wird, ist viel existenzieller, nachhaltiger und dennoch zumeist gut verständlich. Menschen sind verwundbar, „un-verschämt“, offen und sehr authentisch, wenn sie beispielsweise als Akt Modell sitzen. Eine Künstlerin, die aufgrund der gewonnenen Eindrücke aus eben solchermaßen offenbarter körperlichen Natürlichkeit ihre malerischen Schlüsse zieht und sie verwischend andeutet - und gerade in dieser Technik mehr über die porträtierte Person zu zeigen imstande ist, als wir im ersten Eindruck glauben - das ist die Österreicherin Renate Lutter. 1944 in Chemnitz geboren, verbrachte sie ihre Jugend in Walldorf nahe Heidelberg. Nach ihrem Studium ging sie 1968 nach Wien, ihrem heutigen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Hier bildete sie sich Anfang der 1980er Jahre bei bekannten Künstlern und an der Kunstschule der Stadt Wien weiter. Seit 1995 führte dies zu einer langen Reihe von Einzel- und Gruppenausstellungen. Ankäufe ihrer Werke werden in Österreich und im angrenzenden Ausland getätigt.
„Es ist mir wichtig, die verschiedenen Facetten des menschlichen Daseins aufzuzeigen“, erzählt Renate Lutter. Und dieser identitätsstiftenden Vielfalt vermag die Künstlerin bildnerisch eine Form und Struktur zu geben. Das Aquarell setzt sie dabei bevorzugt für Landschaften und Akte
ein, in den Techniken der Öl- und Acrylmalerei entstehen figurale Zyklen mit einer meist erdigen Farbpalette. Bei der Aktmalerei wird der Körper durch einen ocker- bis braunfarbenen Ton grob skizziert. Die Wahrnehmung des Körpers als ein Objekt voller Dynamik erreicht die Künstlerin durch gezielte Hell-Dunkel-Kontraste, durch Schattenwirkungen bzw. divergierende Farbstufen und -absätze, indem sie durch weiße Freiflächen oder einen starken Duktus mit dunkler Farbe bei der Fokussierung jeweils eines Arms, Beins und einer Seite des Oberkörpers die Perspektive seitlich ausrichtet. Der Blick ist leicht verschoben, der Körper erlangt eine gewisse stabile und konsequente Bewegungsenergie, trotz oder besser: aufgrund der Ruhe des Objektes. Wichtige Körperregionen werden malerisch zentriert (beim „Männlichen Akt“ (2012) die linke obere Schulter oder die linke Leiste; im Werk „Naturverbundenheit“ ist es bei dem weiblichen Akt der Busen, die Wölbung des Bauches und als Umriss die Beine).
Dabei ist das malerisch Angedeutete, Unfertige intimer und wesentlicher als es ein in Farbe und Abbildung perfektes Bild suggerieren würde. Denn der Mensch ist unperfekt, das Bild ist nur das Äquivalent des Schutzlosen. Das Bild verheißt das, was in der Persönlichkeit sichtbar verborgen bleibt. Der „Akt der Darstellung“ (im doppelten Sinne) geht über ein bloßes Abbilden hinaus. Bleibt in ihrem „Männlichen Akt“ noch die gegenständliche Darstellung als Torso erhalten, so ist es im „Weiblichen Akt“ (2012) abstrakter. Als sichtbarer, erkennbarer Halt sind die Beine zwar angedeutet, der Umriss
erkennbar- die Figur als solche verbleibt jedoch im Diffusen. Dennoch bleibt es nachvollziehbar nur ein Akt, der Akt als Symbol für eine Natürlichkeit in sich.
Er trägt nur die vielen Facetten des menschlichen Seins in sich. Die malerische Annäherung an den Menschen geschieht nahezu unbewusst. Eindrücke rein mathematischer Natur wie Proportionen und Volumina korrespondieren mit dem Gesamteindruck des Modells - und werden dann noch abgerundet durch eine ganz persönliche Wahrnehmung des Wesens, der Individualität. Es ist etwas Intuitives, nicht Nennbares, das dem Werk seine Persönlichkeit, sein Diktum, seine malerische Deutung verleiht. Dies gelingt umso klarer, weil durch den Verlauf der Aquarellfarbe, die Unschärfe, eine gewisse Distanz zwischen Objekt und Betrachter entsteht.
In den Erscheinungsformen des menschlichen Daseins setzt die Künstlerin den Menschen in Beziehung zu seiner Umwelt, Landschaften gehen in „Körperlandschaften“ über. Immer wieder zeigt sich dabei ihr sensibles Gespür für Struktur und Textur. In ihrem Werk „Aus der Natur“ gewinnen wir eine Ahnung vom Vergänglichen: Mit einer prononcierten Wischtechnik (in Querrichtung) scheint der Betrachter eine flüchtige Ahnung eines abstrakten Naturabbildes zu bekommen, das, einer Beobachtung aus einer Zugfahrt gleichend, einfach an ihm vorbeirauscht. Bewegung, Unschärfe, ein kurzes Abbild - so erscheint uns das gerade Gesehene und doch schon wieder Vorübergegangene. Es ist ein weiterer Eindruck auf einer unendlichen Skala von Bildern einer Natur, die nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar ist. Kongenial umgesetzt, besteht dieses Werk aus einer raffinierten und geplanten Struktur aus sichtbar Stillstehendem und sichtbar Verwischtem. Wir sehen etwas, was eigentlich nicht da ist, sehen eine Bewegung, obwohl das Bild diese Bewegung einfriert.
Diese Art der Technik erinnert nicht nur an die Filmbranche, sondern auch vor allem direkt an den Fotorealismus, der Situationen so zu generieren vermag, dass Stillstand nicht automatisch auch Bewegungslosigkeit bedeuten muss. Die dunklen, erdfarbigen Töne vertiefen noch den Eindruck einer natürlichen Umwelt, ohne dass
wir diese aber bewusst als solche wahrnehmen. Die Erkenntnis der Vielfalt menschlichen Seins und der (möglichst) unberührten Natur sind sich viel ähnlicher als wir glauben: Denn es ist eben nicht die Ausschnitthaftigkeit der Wahrnehmung, sondern die Abstraktion des Wahrgenommenen, die den entscheidenden Unterschied ausmacht.